Vom analogen ins digitale Zeitalter
Welches sind die neuesten und allerneuesten Tendenzen in der Hörkunst heute? – Je näher man der Gegenwart rückt, desto schwieriger ist es, Schwerpunkte, Trends, in eine bestimmte Richtung gehende Entwicklungslinien zu identifizieren. Was man aber sagen kann, ist, dass sich das Hörspiel seit den frühen 80er Jahren seine volle künstlerische Freiheit erobern konnte.
Im Aufbegehren des Neuen Hörspiels gegen eine zur Verfestigung tendierende Tradition haben sich die Hörspielmacher vom Druck des literarisch dominierten Hörspiels befreit, aber nachdem sie das geschafft haben, können sie sich ihrer Tradition auch wieder zuwenden und müssen nicht mehr mit aller Gewalt avantgardistisch sein.
Neben dem akustischen Formexperiment entstehen in allen Genres, vom Kriminalhörspiel über das Mundarthörspiel bis zur Sciencefiction, originelle Arbeiten von hohem Niveau. Der spannenden Unterhaltung wird von heutigen Programmdirektoren allerdings mehr und mehr Raum – zuungunsten von „Minderheitenprogrammen“, eingeräumt. So hat sich vor allem das Kriminalhörspiel einen dominierenden Platz in der Primetime nicht nur der populären Radiowellen erobert, während das literarische und klangexperimentelle Hörspiel in die Nachtzeiten und sonntäglichen Spätnachmittagsprogramme der Kulturwellen emigrieren musste.
Leider verschärft sich dieser Trend gegenwärtig so sehr, dass außer für den Hörspielkrimi und die oft zahllose Folgen umfassende Literaturbearbeitung nur noch wenige Programmplätze für literarische oder experimentelle Originalhörspiele übrigbleiben. Ebenso wenig Raum sehen die Programmschemata der ARD-Sender für die Wiederholung historischer Hörspiele vor. Für deren Publikation auf CD scheint der Markt zu eng zu sein, auf ihm werden ohnehin großräumige Bearbeitungen klassischer Literatur bevorzugt. Und in den Audiotheken der Rundfunkanstalten bzw. in der ARD-Audiothek macht das Repertoire einen eher zufälligen, ungeordneten und unübersichtlichen Eindruck.
Zum hundertjährigen Geburtstag ist mit der Podcast-Collection „100 aus 100“ eine Auswahl getroffen worden, die zwar auch historische Hörspiele in Erinnerung ruft, den ganzen Reichtum der Hörspielgeschichte aber nicht abbilden kann. So schlummert heute in den Archiven weiterhin eine überreiche Fülle wunderbarer Originalhörspiele.
Im Hörspiel der Gegenwart sind Sprache, Geräusch und Musik zu gleichberechtigten Komponenten geworden. Die Regisseure mit ihren Ton-Ingenieuren und Schnitt-Technikerinnen verfügen souverän über die gestalterischen Mittel. Schnitt und Montage haben längst die traditionelle Zeit- und Raumdramaturgie hinter sich gelassen; dank digitaler Technik dringen die Hörspielmacher und Klangkünstler in die Mikrostruktur der Stimmen, der Dialoge, Klänge und Geräusche und ihre Verknüpfungen ein.
Das Kunstkopf-Mikrophon hat sich nicht durchsetzen können, da es den Hörer unter Kopfhörer zwingt; mit ihm produzierte Hörspiele sind jedoch für Enthusiasten weiterhin hochinteressant. Aber auch die Stereophonie dient keineswegs nur zum Zweck realistischer Illusionsbildung, sondern zur künstlerischen Gliederung des Hörspiels und ermöglicht eine hochdifferenzierte Choreographie der Stimmen und Klänge im Raum. Das gilt auch für die anspruchsvolleren unter den Produktionen, die in letzter Zeit durch den Einfluss des Kinos in der 5.1-Surround-Technik hergestellt und gesendet wurden, z.B. Patricia Görgs Vater, Mutter, Zuckerstreuer.
Das Gespür für die Möglichkeiten, mit dem Medium Rundfunk und der elektroakustischen Technik kreativ umzugehen, ist durch die Epoche des Neuen Hörspiels erheblich verfeinert worden. Helmut Heißenbüttels Forderung „Alles ist möglich, alles ist erlaubt“ scheint Wirklichkeit geworden zu sein.
Dem Hörspiel sind seit den Achtziger und Neunziger Jahren Spielräume zurückgewonnen worden, die durch die Ästhetik des Neuen Hörspiels scheinbar für obsolet erklärt worden waren, aber im Unterhaltungshörspiel ohnehin überlebt hatten. Vor allem: Es darf weiterhin erzählt werden. Die story kehrte in das anspruchsvolle Hörspiel zurück, Spannung ist nicht mehr verpönt, man darf wieder glauben, die Stimmen gehörten zu Menschen aus Fleisch und Blut, die Zeichnung personaler Charaktere und ihrer Lebensgeschichte und die radiophone Analyse individueller und kollektiver Sprachspiele schließen einander nicht aus.
Die Wiederkehr des Erzählens brachte allerdings eine Renaissance der Literaturadaptionen mit sich: Neben Originalhörspielen werden jährlich mindestens ebenso viele, wenn nicht mehr Hörspiele produziert, die sich auf Romane, Erzählungen und Theaterstücke beziehen und sie bearbeiten.
Quelle: Günter Peters I Hundert Jahre Hörspiel I Geschichte und Geschichten